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Verbraucherschutz adé bei gemischter Social-Media-Nutzung? – Entscheidungsgründe des KG Berlin zu den X/Twitter-Klagen liegen vor

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Rechtsanwalt Michael Terhaag, LL. M.

Fachanwalt für IT-Recht
Fachanwalt für gewerblichen Rechtsschutz

Verbraucherschutz adé bei gemischter Social-Media-Nutzung? – Entscheidungsgründe des KG X/Twitter-Klagen liegen vor.

Bereits im Sommer hatten wir im Beitrag Gerichtsstand Irland: Das Kammergericht Berlin setzt X/Twitter-Klagen vor die Tür über das Verfahren berichtet – damals schien die Entscheidung formal klar, aber inhaltlich fragwürdig. Nun liegen die schriftlichen Gründe des Urteils vom 10. Juli 2025 - Az.: 10 U 104/24 vor – und sie bestätigen diesen Eindruck eindrucksvoll. (Transparenzhinweis: Der Autor vertritt in dem Verfahren keine der Parteien.)

Worum geht es?

Zwei Nutzerinnen der Plattform X verlangen von der Betreiberin von X die Löschung mehrerer Posts mit holocaustleugnenden Inhalten, wie etwa unten rechts dargestellt. Die Unzulässigkeit der insgesamt sechs Postings steht in diesem Fall zur Recht überhaupt nicht in Frage. Alle diese geschmacklosen und in Deutschland strafbaren Inhalte sind in den Urteilgründen wiedergegeben.

Die Klägerinnen beriefen sich auf vertragliche Pflichten zur Inhaltsmoderation und machten geltend, sie handelten als Verbraucherinnen.

Das Landgericht Berlin hatte die Klage bereits wegen fehlender internationaler Zuständigkeit deutscher Gerichte abgewiesen.
Auch die Berufung blieb ohne Erfolg.

Kein Verbrauchergerichtsstand und der Erfüllungsort (nur) in Irland

Nach Auffassung des Kammergerichts liegt der Erfüllungsort für vertragliche Ansprüche gemäß Art. 7 Nr. 1 Brüssel Ia-VO ausschließlich am Sitz der Dienstleisterin – hier also in Dublin. Eine Zuständigkeit wegen unerlaubter Handlung nach Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO scheide aus, da die Klage auf vertragliche Pflichten gestützt sei. 

Den sogenannten Verbrauchergerichtsstand nach Art. 17 Abs. 1 Brüssel Ia-VO lehnte das Gericht ab. Eine der Klägerinnen trete auf X unter ihrem Klarnamen mit dem Zusatz „RA“ auf und habe teils beruflich geprägte Beiträge veröffentlicht – das begründe „vernünftige Zweifel“ an einer rein privaten Nutzung. Schon ein erkennbarer beruflicher Bezug genüge danach, um den Verbraucherstatus – und damit den deutschen Gerichtsstand – zu verlieren. Die zweite Klägerin scheiterte zusätzlich, weil sie ihre Anschrift – und damit auch ihren Wohnort innerhalb der EU – nicht angegeben und schutzwürdige Geheimhaltungsinteressen nicht glaubhaft gemacht habe (§ 253 Abs. 2 Nr. 1, § 130 Nr. 1 ZPO). Besonders bemerkenswert: Nach den Feststellungen des Gerichts nutzte sie X überwiegend passiv, also vor allem zum Lesen – eine Nutzung, die kaum Rückschlüsse auf eine berufliche Zwecksetzung erlaubt. Dass selbst dies nicht ausreichen soll, um bei einer natürlichen Person den Verbraucherstatus zu begründen, zeigt, wie eng und praxisfern der Ansatz des Gerichts ist.

Der Verbraucherbegriff des KG

Diese Auslegung überzeugt in der praktischen Konsequenz kaum. Das Kammergericht legt den Verbraucherbegriff im Kontext sozialer Netzwerke so eng aus, dass natürliche Personen, die beruflich tätig oder auch nur identifizierbar sind, faktisch kaum noch als Verbraucher gelten können. Gerade in sozialen Medien werden Accounts regelmäßig gemischt genutzt – privat, gesellschaftlich und beruflich.
Eine solche Sichtweise lässt den Verbrauchergerichtsstand in der Praxis nahezu leer laufen, weil fast jede natürliche Person, die sich im digitalen Raum bewegt, in irgendeiner Weise auch beruflich tätig oder identifizierbar ist. Einer natürlichen Person die Verbrauchereigenschaft abzusprechen, nur weil sie beruflich sichtbar ist, widerspricht dem Schutzzweck des unionsrechtlichen Verbraucherrechts.
Auch der Fall der zweiten Klägerin zeigt, wie realitätsfern diese Sichtweise ist: Wer eine Plattform nur liest, nutzt sie nicht zwingend„beruflich“, sondern schlicht als Kommunikations- oder Informationsmedium. Ob das beruflich oder privat geschieht, kann faktisch nicht festgestellt werden. Aus einer solchen überwiegend passiven Nutzung eine überwiegend berufliche Zwecksetzung abzuleiten, ist lebensfremd und schwer nachvollziehbar.

Zuständigkeit nur am Unternehmenssitz

Das Kammergericht beschränkt den Erfüllungsort auf den Unternehmenssitz in Irland. Gerade bei globalen Kommunikationsdiensten entfaltet sich die vertragliche Leistung aber beim Nutzer – beim Abruf, bei der Meldung und der Interaktion. Eine funktionsbezogene Betrachtung, die auch den Ort der Nutzung berücksichtigt, wäre praxisgerechter und unionsrechtskonformer. Andernfalls konzentriert sich die Zuständigkeit für Klagen gegen große Plattformen auf wenige Mitgliedstaaten – mit der Folge, dass Betroffene faktisch keinen inländischen Rechtsschutz mehr haben.

Der Digital Services Act

Richtig ist, dass der DSA keine eigenen Zuständigkeitsregeln enthält. Das führt aber zur offenen unionsrechtlichen Frage, ob und inwieweit die Brüssel Ia-VO im Lichte des DSA auszulegen ist. Der DSA zielt darauf ab, Nutzerinnen und Nutzern effektive Rechtsbehelfe und Zugang zu gerichtlicher Kontrolle gegenüber Plattformen – insbesondere sehr großen Online-Plattformen (VLOPs) – zu sichern. Dass das Kammergericht diesen Zusammenhang vollständig ausblendet und den DSA auf seine rein materiellrechtliche Dimension reduziert, erscheint unionsrechtlich zumindest diskussionswürdig. Eine Vorlage an den EuGH zur Klärung dieser Frage wäre naheliegend gewesen.

Zwischenfazit

Die Entscheidung ist konsequent, aber -sorry- weltfremd. Sie verschiebt die Balance zwischen Nutzerinnen und Plattformen weiter zugunsten der Anbieter und entwertet den unionsrechtlich intendierten Verbraucherschutz nahezu vollständig. Zwei natürlichen Personen den Status einer Verbraucherin gänzlich abzusprechen, ist kaum nachvollziehbar.
Es bleibt zu hoffen, dass diese Linie nicht zur Blaupause für den digitalen Alltag wird. Eine differenziertere, funktionsbezogene Betrachtung, die gemischte Nutzung realistisch abbildet, wäre nicht nur sachgerechter, sondern auch erforderlich, um den Verbraucherschutz im digitalen Raum nicht leer laufen zu lassen. Wir hoffen, dass der Bundesgerichtshof die Sache zur Entscheidung annimmt und den Gerichtsstand – anders als das KG – praxisgerechter bewertet.Wir halten Euch informiert...

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