„Sharenting“: Die öffentliche Erziehung im Internet
Von Rechtsanwalt Christian Schwarz, LL.M.
Fachanwalt für gewerblichen Rechtsschutz
Die kleine Mia macht ihre ersten eigenen Schritte, der kleine Max isst zum ersten Mal Spaghetti mit einer Gabel – Körper und Gesicht von der Soße beschmiert. Wichtige Momente im Leben eines jungen Menschen. Eltern sind stolz auf ihre Kinder, keine Frage. Jeder Schritt der Kleinen wird dokumentiert, in Foto- und Filmaufnahmen.
Schnell landen diese Bilder im Familienalbum – allerdings nicht zu Hause, sondern öffentlich bei Facebook, Instagram und anderen Netzwerken. So ziemlich jeder Nutzer der sozialen Netzwerke dürfte auf solche Bilder aus dem Freundes- und Bekanntenkreis stoßen. Dies wird als „Sharenting“ bezeichnet – ein zusammengesetztes Wort aus den englischen Begriffen „Sharing“ (teilen) und „Parenting“ (Erziehung).
Dass Eltern und auch Großeltern ihr Glück am liebsten mit der ganzen Welt teilen wollen, lässt sich nachvollziehen. Vergessen wird dabei jedoch häufig, dass womöglich tatsächlich Nutzer aus der gesamten Welt die Bilder sehen, mit wenigen Klicks kopieren und schnell teilen kann. Auf diese Weise werden Bilder unkontrolliert verbreitet und genutzt. Das gilt natürlich auch bei privaten Accounts, denn auch da weiß man nicht was andere Nutzer mit den Bildern machen. Ob die Kinder dies (später) möchten oder nicht. Auch hier gilt häufig die Weisheit: Das Internet vergisst nichts.
Dies gilt natürlich auch für den Versand von Fotos: So schnell wie ein Bild via WhatsApp an Freunde verschickt wurde, so schnell ist es auch schon wieder weitergeleitet – nach dem Motto: „Guck mal, die Kleine von Sandra ist aber schon groß geworden“.
Noch dazu lernen die Nutzer in der Regel den Namen und den Entwicklungsstand des Kindes kennen. Zusätzlich erfahren sie viele weitere Details aus dem gemeinsamen Familienleben. Häufig bekommt man in Videos mit, wie Mama und Papa mit ihrem Kind reden, was der Sprössling darf und nicht darf.
„Das sind wir: Die Familie Claßen“
Ein prominentes Pärchen ist nun bewusst den Schritt in die Öffentlichkeit gegangen. Die Influencerin Bianca „Bibi“ Claßen ist Mutter eines Sohnes. Sie hat ihre Schwangerschaft bereits öffentlich im Internet ausgelebt und ihre Nutzer mit vielen Informationen versorgt. Nun zeigt sie auch ihr Kind – bislang jedoch nur so, dass das Gesicht nicht erkennbar war. Meist waren es Aufnahmen von hinten. Das hat sich nun geändert: Vor kurzem veröffentlichte Claßen ein Familienfoto, das sie mit ihrem Ehemann, dem YouTuber Julian „Julienco“ Claßen, sowie ihrem Sohn Lio zeigt. Alle Gesichter sind jetzt deutlich zu erkennen, darunter die Textzeile: „Das sind wir: Die Familie Claßen“.
In einem zeitgleich veröffentlichten Video erklären die beiden, warum sie ab sofort das Gesicht ihres Sprösslings öffentlich zeigen wollen. Als Grund nennen sie unter anderem ihr eigenes Leben in der Öffentlichkeit: Ihr Sohn würde von Fans ohnehin schon fotografiert und gefilmt, beispielsweise in Restaurants oder auf der Straße. Zunächst hätten sie immer wieder versucht, den Sohn zu schützen oder die Fans aufgefordert, das Bild zu löschen. Doch nun, wo der Kleine agiler sei und die Welt entdecke, hätten sie keine Lust mehr, den Kinderwagen mit Tüchern zu verhüllen. „Wir glauben einfach, wenn wir den Lio weiterhin versuchen krampfhaft zu verstecken, dass das ein gestörter Weg ist“, sagt Julienco in dem Video. Auf diese Weise würden sich die beiden auch wieder etwas freier in der Öffentlichkeit bewegen können. Sie hätten über diesen Schritt auch lange nachgedacht, versichern die beiden Influencer im Video.
Freilich gibt es jedoch einen Unterschied zwischen „das Kind nicht mehr verstecken zu wollen“ und es selbst öffentlich einem Millionenpublikum zu zeigen.
Man möchte Bibi und Julienco nichts Böses unterstellen, aber ganz uneigennützig dürfte die Idee der beiden auch nicht gewesen sein: Als Influencer verdienen sie Geld mit Werbung im Internet. Und der Markt für Baby- und Kinderprodukte ist groß. Zeigt ein beliebtes Influencer-Pärchen nun aktiv ihr Kind, dürfte dies auch Begehrlichkeiten in der Werbebranche wecken. Lio kann sich gegen die Entscheidung seiner Eltern nicht wehren und wird künftig womöglich unfreiwillig zur Werbefigur.
Wenig überraschend: Auch Kinder haben Rechte.
Natürlich haben auch Kinder ein Recht am eigenen Bild – das wird nur in jungen Jahren von den Eltern ausgeübt. Je nach Alter und Einsichtsfähigkeit des Kindes, muss dieses sogar zusätzlich gefragt werden. Das ist dann der Fall, wenn das Kind die Tragweite der Veröffentlichung selbst überblicken kann. Das ist für Jugendliche spätestens ab dem 14. Lebensjahr in der Regel der Fall.
Eltern sollten mit dem Recht sehr sorgsam umgehen. Kinder sollen ungestört aufwachsen können. Ein Foto, das Eltern heute süß finden, kann dem eigenen Kind später – vielleicht als Jugendlicher – sehr unangenehm sein. Vielleicht wird es damit sogar in der Schule geärgert oder gemobbt. Auch gibt es immer wieder Menschen, die solche Bilder in einschlägigen Foren, Portalen oder Netzwerken verbreiten.
Vor jeder Veröffentlichung und jedem Versand sollten sich Mama und Papa die (hypothetische) Frage stellen: Möchte mein Kind das auch? Vielleicht hilft in diesem Fall häufig auch ein Blick in die eigene Vergangenheit, indem man sich an die eigenen Bilder aus ihren Kinder- und Jugendtagen erinnert und sich überlegt: Hätte ich gewollt, dass jeder dieses Fotos sehen kann?
Am Ende ist es vielleicht am besten, die Fotos Verwandten und Freunden ganz klassisch persönlich zu zeigen. Meist gibt es zu jedem Bild auch eine Geschichte zu erzählen – das ist für alle viel schöner als sie bloß im Internet zu veröffentlichen.
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