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Untersagung der Veranstaltung von Sportwetten mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar - VG Arnsberg, Beschluss vom 12.10.2007, Az.: 1 L 726/07

Leitsätzliches

Die Untersagung von privaten Sportwetten durch Gewerbetreibende in Deutschland, die eine Lizenz eines anderen Mitgliedsstaates vorweisen können, ist mit der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit nicht vereinbar. Eine sog. Übergangsrechtslage kann nicht durch die nationalen Gerichte geschaffen werden, da diese dem Gemeinschaftsrecht und der Rechtssprechung des EuGH fremd ist.

VERWALTUNGSGERICHT ARNSBERG

BESCHLUSS

 

Aktenzeichen: 1 L 726/07

Entscheidung vom 12. Oktober 2007

 

In dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren

wegen

Vermittlung von Sportwetten

hat die 1. Kammer des Verwaltungsgerichts Arnsberg am 12. Oktober 2007 durch den Präsidenten des Verwaltungsgerichts Dr. ... die Richterin am Verwaltungsgericht, den Richter am Verwaltungsgericht ... beschlossen:

 

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruches des Antragstellers vom 7. September 2007 gegen die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 24. August 2007 wird wiederhergestellt bzw. angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 7 500,00 EUR festgesetzt.


Gründe:

Der dem Tenor entsprechende Antrag des Antragstellers ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zulässig. Insbesondere ist der Widerspruch hier auch das statthafte Rechtsmittel gegen die angefochtene Ordnungsverfügung. Gemäß §§ 2 Nr. 3, 5 Abs. 1 des Ersten Bürokratieabbaugesetzes vom 13. März 2007 (GV NRW S. 133) gilt mit Wirkung ab dem 15. April 2007, dass es abweichend von § 6 Abs. 1 des Ausführungsgesetzes zur Verwaltungsgerichtsordnung (AG VwGO) eines Vorverfahrens gemäß § 68 VwGO nicht bei Entscheidungen nach der Gewerbeordnung und den dazu ergangenen Rechtsverordnungen bedarf. Die vorliegende Untersagung der Sportwettenvermittlung stützt sich jedoch nicht auf die Gewerbeordnung und dazu ergangene Rechtsverordnungen, sondern sowohl ausweislich der herangezogenen Rechtsgrundlagen in der Ordnungsverfügung als auch ihrer weiteren Begründung auf die Ermächtigungsgrundlage des § 14 Abs. 1 des Gesetzes über Aufbau und Befugnisse der Ordnungsbehörden (Ordnungsbehördengesetz – OBG –). Daher verbleibt es vorliegend bei der Erforderlichkeit eines Vorverfahrens gemäß § 68 VwGO.

Der Antrag ist auch begründet. Das private Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die angefochtene Ordnungsverfügung überwiegt das öffentliche Interesse an deren sofortiger Durchsetzung. Denn bei der im vorliegenden Eilverfahren allein möglichen summarischen Beurteilung bestehen schwerwiegende Zweifel an der Rechtmäßigkeit der genannten Verfügung. Vor diesem Hintergrund fällt auch die Interessenabwägung im Übrigen zu Gunsten des Antragstellers aus.

Die Voraussetzungen für das ordnungsbehördliche Einschreiten des Antragsgegners sind voraussichtlich nicht gegeben, und zwar unabhängig davon, ob als Ermächtigungsgrundlage § 15 Abs. 2 GewO oder § 14 Abs. 1 OBG in Betracht kommen. Es spricht alles dafür, dass die gewerbliche Tätigkeit des Antragstellers, der über seine Betriebsstätte in T.…, T1.… straße, für die in Malta als Wettveranstalter lizenzierte Firma F.… Sportwetten vermittelt, gegenwärtig nicht gegen Rechtsnormen verstößt. Insbesondere wirkt der Antragsteller nicht bei der Verwirklichung eines Straftatbestandes mit. Die Verletzung des § 1 Abs. 1 des Sportwettengesetzes NRW, der die Veranstaltung von Sportwetten von einer Erlaubnis abhängig macht, welche die Geschäftspartnerin des Antragstellers nicht besitzt und nach dieser Vorschrift auch nicht erhalten kann, rechtfertigt die Verbotsverfügung ebenfalls nicht.

Die Kammer geht zwar nach wie vor und in Übereinstimmung mit der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung davon aus, dass Sportwetten in der Form der Oddset-Wetten Glückspiele im Sinne des § 284 Abs. 1 des Strafgesetzbuches (StGB) sind. Diese Glückspiele werden im vorliegenden Fall (auch) in Nordrhein-Westfalen veranstaltet, indem hier durch einen Vermittler, den Antragsteller, die Möglichkeit eröffnet wird, Angebote zum Abschluss von Wettverträgen abzugeben (vgl. § 9 StGB). Seine Gewerbeausübung ist ohne die nachstehend angesprochenen Auswirkungen der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 43 und 49 des EG-Vertrages (EG) jedenfalls als Beihilfe zur Verwirklichung des Straftatbestandes des § 284 Abs. 1 StGB zu beurteilen.

Vgl. hierzu Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschlüsse vom 28. Juni 2006 – 4 B 961/06 –, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2006, 1078, und vom 8. November 2004 – 4 B 1270/04 – m. w. N.

Die auf § 284 Abs. 1 StGB in Verbindung mit § 1 Abs. 1 des Sportwettengesetzes NRW in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung beruhende Strafbarkeit des Veranstaltens von Sportwetten durch einen Gewerbetreibenden, der für diese Tätigkeit eine Erlaubnis eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union (EU) erhalten hat, und der damit einhergehende Ausschluss dieses Gewerbetreibenden vom Sportwettenmarkt in Nordrhein-Westfalen sind jedoch mit der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 43 und 49 EG nicht vereinbar. Dies führt wegen des Anwendungsvorranges des europäischen Gemeinschaftsrechts zur Unanwendbarkeit der vorgenannten, mit ihm unvereinbaren nationalen Rechtsnormen. Damit entfällt auch die Grundlage dafür, die Vermittlungstätigkeit des Antragstellers zu unterbinden.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit Urteil vom 6. November 2003 – Rs C-243/01 – (Gambelli) entschieden, dass nationale Regelungen, die strafbewehrte Verbote des Sammelns, der Annahme und der Übertragung von Sportwetten enthalten, Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs nach den Art. 43 und 49 EG darstellen, wenn der betreffende Mitgliedstaat (wie hier) keine Genehmigungen erteilt. Diese Beschränkungen müssen – in ihren konkreten Anwendungsmodalitäten – aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein. Sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. Auf jeden Fall müssen sie in nicht diskriminierender Weise angewandt werden. Zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, die Beschränkungen der Spieltätigkeiten rechtfertigen können, gehört u.a. die Vermeidung von Anreizen zu überhöhten Ausgaben für das Spielen. Unverhältnismäßig können strafrechtliche Sanktionen für das Durchführen von Wetten mit Veranstaltern in einem anderen Mitgliedstaat der EU vor allem dann sein, wenn zur Teilnahme an Wetten ermutigt wird, sofern sie von staatlich zugelassenen nationalen Einrichtungen organisiert werden.

Vgl. EuGH, Urteil vom 6. November 2003 – Rs C-243/01 – (Gambelli), Slg. 2003, S. I-13031, Rn. 48 f, 59 f, 65, 72, 75.

Den Mitgliedstaaten steht es zwar frei, die Ziele ihrer Politik auf dem Gebiet von Glücksspielen festzulegen und gegebenenfalls das angestrebte Schutzniveau genau zu bestimmen, jedoch müssen die von ihnen vorgeschriebenen Beschränkungen den sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Anforderungen hinsichtlich ihrer Verhältnismäßigkeit genügen.

EuGH, Urteil vom 13. September 2007 – Rs C-260/04 (Kommission ./. Italien) –, Rn. 28 m. w. N.

Diese Anforderungen erfüllt das Sportwettengesetz NRW in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung nicht. Zu dieser Beurteilung gelangt das Gericht unter Würdigung der Einschätzungen, die das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bei der Prüfung vorgenommen hat, ob die dem Sportwettengesetz NRW entsprechenden bayerischen Vorschriften, die der Erteilung einer Erlaubnis zur Veranstaltung von Sportwetten an einen nichtstaatlichen Bewerber entgegenstehen, mit dessen durch Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) geschützter Berufsfreiheit vereinbar sind.

Vgl. BVerfG, Urteil vom 28. März 2006 – 1 BvR 1054/01 –, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2006, 1261 = Gewerbearchiv (GewArch) 2006, 199.

Danach liegen dem staatlichen Wettmonopol in Bayern legitime Gemeinwohlziele, u.a. die Bekämpfung der Spiel- und Wettsucht, zugrunde. Der Gesetzgeber hat grundsätzlich auch davon ausgehen dürfen, dass die gesetzliche Errichtung des fraglichen Monopols ein geeignetes und erforderliches Mittel ist, um die Suchtgefahren zu bekämpfen.

In seiner gesetzlichen und tatsächlichen Ausgestaltung im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stellt das in Bayern errichtete staatliche Wettmonopol auch unter Berücksichtigung des von sämtlichen Ländern ratifizierten Lotteriestaatsvertrages jedoch einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Berufsfreiheit dar. Denn es ist in einer Weise ausgestaltet, die eine effektive Suchtbekämpfung nicht sicherstellt. Diese Unverhältnismäßigkeit erfasst auch den Ausschluss der Vermittlung nichtstaatlicher Wetten.

Vgl. BVerfG, a. a. O. Rn. 118, 119, 143.

Diese Wertungen sind auch für die Beantwortung der Frage maßgeblich, ob die tatsächliche und rechtliche Ausgestaltung des staatlichen Wettmonopols in Deutschland den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts entspricht. Denn die vom Europäischen Gerichtshof in seiner vorgenannten Entscheidung insoweit formulierten Anforderungen entsprechen denen des Grundgesetzes.

Vgl. BVerfG, a. a. O., Rn. 144.

Die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Anwendung dieser Grundsätze auf die Rechtslage in Bayern ist auf den Rechtszustand in Nordrhein-Westfalen zu übertragen.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. August 2006 – 1 BvR 2677/04 –, Rn. 16.

Die Rechtslage in diesen beiden Bundesländern weist in dem hier erheblichen Zusammenhang keine wesentlichen Unterschiede auf. In beiden Ländern gibt es ein staatliches Monopol für die Veranstaltung von Sportwetten, und zwar in Bayern zugunsten der Staatlichen Lotterieverwaltung bzw. einer juristischen Person des Privatrechts, deren alleiniger Gesellschafter der Freistaat Bayern ist (Art. 2 Abs. 4 und 5 des Staatslotteriegesetzes), und in Nordrhein-Westfalen zugunsten einer juristischen Person des öffentlichen Rechts oder juristischen Personen des privaten Rechts, deren Anteile überwiegend juristischen Personen des öffentlichen Rechts gehören (§ 1 Abs. 1 des Sportwettengesetzes NRW). Die ergänzenden Regelungen des im Jahre 2004 in Kraft getretenen Lotteriestaatsvertrages (vgl. das Zustimmungsgesetz vom 22. Juni 2004, GV NRW S. 315, SGV. NRW 7126) gelten ohnehin bundesweit einheitlich.

Danach verstößt das nordrhein-westfälische Sportwettenmonopol zugunsten staatlicher (öffentlich-rechtlicher) bzw. von ihnen beherrschter Veranstalter in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung gegen Art. 43 und 49 EG. Dieser Verstoß erfasst auch das Verbot entsprechender Vermittlungstätigkeiten, wie sie der Antragsteller vornimmt.

Zwar dürfte sich die tatsächliche Ausgestaltung des Wettmonopols inzwischen geändert haben.

Vgl. hierzu im Einzelnen OVG NRW, Beschluss vom 31. Oktober 2006 – 4 B 1774/06 –.

Die rechtlicheAusgestaltung dieses Monopols, die nach der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls mit Art. 12 Abs. 1 GG (und damit wegen der inhaltlichen Parallelität der rechtlichen Vorgaben auch mit Art. 43, 49 EG) unvereinbar ist, ist dem höherrangigen Recht bislang jedoch nicht angepasst worden.

Dieser Verstoß gegen das europäische Gemeinschaftsrecht ist nicht während einer bis zum Ende des Jahres 2007 dauernden Übergangszeit, in der Beschränkungen der Veranstaltung von Sportwetten in Einklang mit dem höherrangigen Recht neu zu regeln sind, unbeachtlich.

Vgl. Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 4. April 2007 – 3 W 18/06 –, NVwZ 2007, 717 (722 f.).

Etwas Anderes ergibt sich insbesondere nicht aus der vorbezeichneten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März 2006. Dieses Urteil bezieht sich nämlich nicht auf die Frage, ob Beschränkungen des Veranstaltens und des Vermittelns von Sportwetten mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht, hier: mit Art. 43 und 49 EG, vereinbar sind. Es bestimmt, soweit in diesem Zusammenhang von Interesse, vielmehr lediglich, dass das bayerische Staatslotteriegesetz trotz der Unvereinbarkeit mit Art. 12 Abs. 1 GG nach Maßgabe der Gründe jener Entscheidung zunächst weiter angewandt werden darf. Dies entspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für die Fälle, in denen eine gesetzliche Regelung mit dem nationalen Verfassungsrecht(dem Grundgesetz) nicht in Einklang steht, in denen der Gesetzgeber aber mehrere Möglichkeiten hat, diesen Verfassungsverstoß zu beseitigen. Rechtliche Konsequenzen, die aus einer Verletzung des europäischen Gemeinschaftsrechtsherrühren, hat das Bundesverfassungsgericht hingegen nicht geregelt.

Vgl. BVerfG, Urteil vom 28. März 2006 – 1 BvR 1054/01 –, Rn. 77 und 146–160.

Dem Recht der Europäischen Gemeinschaften und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind Übergangsfristen, während derer nationalesRecht trotz seiner Unvereinbarkeit mit dem EG-Vertragweiter anwendbar ist, fremd. Diese Vertragsbestimmungen und die anderen unmittelbar geltenden Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane haben vielmehr Vorrang vor dem internen Recht der Mitgliedstaaten. Dieses Recht ist, soweit es dem EG-Recht widerspricht, nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, im Übrigen auch nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, unangewendet zu lassen.

Vgl. EuGH, Urteile vom 15. Juli 1964 – Rechtssache 6-64 – (Costa/ E.N.E.L.), Slg. 1964, S. 1253 (1269), vom 9. März 1978 – Rs 106-77 – (Simmenthal), Slg. 1978, 629, Leitsatz 3, und vom 22. Juni 1989 – Rs 103-88 – (Costanzo), Slg. 1989, 1839 (Rn. 28 – 33); BVerfG, Beschluss vom 8. April 1987 – 2 BvR 687/85 –, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 75, 223 (244).

Die nationalen Kriterien für den Erlass vorläufiger Maßnahmen zur Aussetzung der Anwendung nationaler Bestimmungen, bis das zuständige Gericht über deren Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht entschieden hat, dürfen die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität).

EuGH, Urteil vom 13. März 2007 – C432/05 – (Unibet), Rn. 81 und 82.

Der Verstoß der nationalen Rechtsnormen, deren Durchsetzung die angefochtene Ordnungsverfügung dient, gegen das Gemeinschaftsrecht wird daher nicht durch die “Übergangsrechtslage” behoben, die das Bundesverfassungsgericht mit seinem genannten Urteil vom 28. März 2006 geschaffen hat.

So aber Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. Juli 2006 – 6 S 1987/05 –, GewArch 2006, 418 (419); anderer Ansicht (wie hier) offenbar OVG NRW, Beschlüsse vom 28. Juni 2006 – 4 B 961/06 –, a. a. O., vom 9. Oktober 2006 – 4 B 898/06 – und vom 31. Oktober 2006 – 4 B 1774/06 –.

Mit dieser Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht die Folgen begrenzt, die sich aus der Verletzung des nationalen Verfassungsrechts ergeben. Die insoweit aufgestellten Anforderungen – Beachtung lediglich eines Mindestmaßes an Konsistenz zwischen dem zulässigen Zweck der einschränkenden Regelung (hier vor allem: Bekämpfung der Spiel- und Wettsucht) und ihrer tatsächlichen Anwendung (hier: beim Schutz des staatlichen Wettmonopols) während einer vom (nationalen) Verfassungsgericht bestimmten Frist für die Anpassung des einfachgesetzlichen nationalen Rechts an die höherrangige Norm – sind jedoch gemeinschaftsrechtlich nicht als Kriterien einer rechtmäßigen Einschränkung der im EG-Vertrag gewährleisteten Grundfreiheiten anerkannt.

Eine Ausnahme vom Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechtes lässt sich in dem hier zu beurteilenden Fall auch nicht aus Art. 231 Abs. 2 EG ableiten. Nach dieser Vorschrift kann der Europäische Gerichtshof, sofern er eine (EG-)Verordnung für nichtig erklärt hat, diejenigen ihrer Wirkungen bezeichnen, die als fortgeltend zu betrachten sind. Diese Vorschrift ermöglicht es lediglich, durch eine entsprechende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes die Folgen zu begrenzen, die sich aus der Unvereinbarkeit von Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft mit höherrangigem Gemeinschaftsrecht ergeben.

Vgl. Cremer in Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 231 Randnummern 3 bis 6 in Verbindung mit Art. 234 Rn. 36 ff.

Tatbestand und Rechtsfolgen dieser Vorschrift passen jedoch nicht auf die vorliegende Fallgestaltung, in der ein nationales Verfassungsgericht die eingeschränkte Fortgeltung nationalen Rechts trotz Verstoßes gegen das nationale Verfassungsrecht ermöglicht hat.

Soweit die Einräumung von Übergangsfristen für die Angleichung von Rechtsakten an vorrangiges Gemeinschaftsrecht auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 30. Mai 2006 gestützt wird, die sich mit Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft im Zusammenhang mit dem Abkommen zwischen ihr und den Vereinigten Staaten von Amerika über die Verarbeitung und Übermittlung von Fluggastdaten bezieht,

vgl. EuGH, Urteil vom 30. Mai 2006 – C-317, 318/04 –, NJW 2006, 2029,

ist darüber hinaus darauf hinzuweisen, dass die jener Entscheidung zugrunde liegende Sach- und Rechtslage weitere erhebliche Unterschiede gegenüber dem vorliegenden Fall aufweist; die in jenem Verfahren betroffenen Rechtsakte dienten der Abwehr schwerster Straftaten (Bekämpfung des Terrorismus), außerdem ist Vertragspartner des fraglichen Abkommens eine Stelle außerhalb der Europäischen Gemeinschaft.

Soweit das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Fällen der vorliegenden Art wegen einer sonst entstehenden “inakzeptablen Gesetzeslücke” den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts ausschließen will, vermag sich die Kammer dem nicht anzuschließen.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 28. Juni 2006 – 4 B 961/06 –, a. a. O., vom 9. Oktober 2006 – 4 B 898/06 –, vom 31. Oktober 2006 – 4 B 1774/06 – und vom 24. Januar 2007 – 4 B 1993/06 –; im Ergebnis wie hier VG Köln, Urteil vom 6. Juli 2006 – 1 K 3679/05 – und VG Minden, Beschluss vom 31. Juli 2006 – 3 L 402/06 –.

Die Kammer teilt insbesondere die Auffassung nicht, dass aus den Entscheidungsgründen des Europäischen Gerichtshofes zu seinem Urteil vom 6. März 2007 (Placanica u. a.) insbesondere nicht die Aussage zu entnehmen sei, dass eine vorübergehende Anwendung europarechtswidriger Vorschriften des nationalen Rechts im Falle einer “inakzeptablen Gesetzeslücke” ausgeschlossen sei.

So aber OVG NRW, zuletzt: Beschluss vom 26. Juli 2007 – 4 B 994/07 –, Beschlussabdruck S. 11, in st. Rspr.

Aus dem Schweigen des Europäischen Gerichtshofes kann vielmehr auch der Schluss gezogen werden, dass der Europäische Gerichtshof den Vorrang der Geltung der europäischen Grundfreiheiten vor dem widersprechenden nationalen Recht in seiner ständigen Rechtsprechung zum Vorrang der Vertragsbestimmungen des EG-Vertrages als etwas so Selbstverständliches ansieht,

vgl. die oben dargelegte Rechtsprechung seit dem Urteil vom 15. Juli 1964 – Rechtssache 6/64 – (Costa ./. E.N.E.L.), Slg. 1964, S. 1253 (1269),

dass es darüber hinaus keiner weiteren Äußerung zur mangelnden Europarechtskonformität der (temporären) Anwendung vertragswidrigen nationalen Rechts und damit auch nicht zur Frage einer Suspendierung unmittelbar geltender Rechtsakte der Union wegen nationaler “inakzeptabler Gesetzeslücken” bedarf.

Vgl. Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 4. April 2007, a.a.O.

Denn der Vorrang des unmittelbar geltenden europäischen Rechts – damit auch der Grundfreiheiten – vor dem nationalen Recht ist ein Grundpfeiler des EG-Vertrages. Die fortgesetzte Anwendung europarechtswidrigen nationalen Rechts durch einen Mitgliedstaat käme einer einseitigen Aufkündigung der vertraglichen Bindung gleich und würde die Regelungen des EG-Vertrages der nationalen Beliebigkeit preisgeben. So verhielte es sich auch, wenn die Feststellung einer nationalen “inakzeptablen Gesetzeslücke” auch nur zeitlich begrenzt zur Außerkraftsetzung der Grundfreiheiten in einem bestimmten Bereich der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit führte.

Ungeachtet dessen kann offen bleiben, ob der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen in Ausnahmefällen zur Abwehr schwerwiegender Gefahren oder Störungen der öffentlichen Sicherheit im Grundsatz zu folgen ist. Jedenfalls sind die “hohen Anforderungen”, die nach dieser Rechtsprechung an die zeitlich begrenzte Durchbrechung des Anwendungsvorranges zu stellen sind, nach Auffassung der Kammer nicht erfüllt.

Das Oberverwaltungsgericht nimmt diese Voraussetzungen an, wenn aus der Nichtanwendung des nationalen Rechts absehbar eine Gefährdung wichtiger Allgemeininteressen (hier: Eindämmung der Spielsucht, Gewährleistung des hinreichenden Verbraucherschutzes im Glücksspielbereich und präventive Bekämpfung der dort drohenden Begleit- und Folgekriminalität) resultiert, diese Gefährdung ersichtlich schwerer wiegt als die Beeinträchtigung der durch die jeweils verletzte europarechtliche Vorschrift geschützten Rechtsgüter, und schließlich die Gefährdung der wichtigen Rechtsgüter nicht anders abgewendet werden kann als durch eine zeitlich begrenzte weitere Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften. Die genannten wichtigen Allgemeininteressen sind aber derzeit auch bei einer zeitlich begrenzten Nichtanwendung des nordrhein-westfälischen Sportwettenrechts bereits nicht, wie erforderlich, konkret gefährdet. Dem Verbraucherschutz und der Bekämpfung von Begleit- und Folgekriminalität wird bereits jetzt Rechnung getragen. Denn die lizenzierten Wettanbieter unterliegen in den konzessionierenden EU-Mitgliedstaaten bereits einer behördlichen Kontrolle nach den (dortigen) gesetzlichen Vorgaben. Anhaltspunkte dafür, dass diese Kontrolle wirkungslos ist, bestehen nach den bisherigen Erfahrungen nicht. Es liegen der Kammer keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass in anderen EU-Mitgliedstaaten lizenzierte Wettanbieter bedeutsame Handlungen gegen den Verbraucherschutz begangen hätten oder durch Begleit- oder Folgekriminalität generell mehr als das staatliche Wettmonopol belastet sind. Hinsichtlich der Bemühungen um die Eindämmung der Spielsucht, die sich bislang sowohl seitens der staatlichen wie der privaten Anbieter im Wesentlichen in zum Teil gleichlautenden Warnhinweisen erschöpfen, sind gewichtige Unterschiede im Handeln der öffentlichen und privaten Sportwettenanbieter derzeit nicht zu erkennen. Das Handeln der privaten Anbieter ist daher gegenwärtig im Grundsatz nicht als gefährlicher als dasjenige des staatlichen Wettmonopols einzustufen.

Eine “inakzeptable Gesetzeslücke” in dem oben beschriebenen Sinn sieht das Gericht auch mit Blick auf die Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen in dem genannten Beschluss vom 31. Oktober 2006 nicht als gegeben an. Die darin festgehaltenen Erkenntnisse belegen und bestätigen zwar, dass mit der Veranstaltung und Vermittlung von Sportwetten Gefahren verbunden sind, die gesetzliche Einschränkungen bis hin zu einem (den Anforderungen des Europäischen Gerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichts entsprechenden) staatlichen Monopol rechtfertigen können. Das Gericht vermag jedoch nach wie vor nicht zu erkennen, dass diese Gefahren nach Umfang und Intensität abstraktgenerell so groß sind, dass sie ein im Gemeinschaftsrecht grundsätzlich nicht vorgesehenes befristetes Absehen vom Anwendungsvorrang des EG-Rechts, hier: der Grundfreiheiten des EG-Vertrages, rechtfertigen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die untersagte Tätigkeit in verschiedenen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft nach Maßgabe des jeweiligen nationalen Rechts (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt auch für private Wettunternehmen) seit vielen Jahren zulässig ist. Dem Gericht liegen nach wie vor keine Hinweise dafür vor, dass es dort in diesem Zusammenhang zu unerträglichen, auch vorübergehend nicht hinzunehmenden Gefahren bzw. Störungen der öffentlichen Sicherheit gekommen wäre. Dies war auch in Nordrhein-Westfalen bislang nicht der Fall. Sofern im Einzelfall ein ordnungsbehördliches Einschreiten notwendig werden sollte, etwa um Straftaten oder schwerwiegende Gesundheitsgefahren für einzelne Personen zu verhindern, ist dies aufgrund der ordnungsbehördlichen Generalklausel möglich. Im vorliegenden Fall liegen hierfür konkrete Anhaltspunkte jedoch nicht vor.

Es kann somit offen bleiben, ob – was indes fraglich ist – auch eine konkrete Gefährdung wichtiger Allgemeingüter nicht anders als durch eine zeitlich begrenzte Anwendung des gemeinschaftsrechtswidrigen Sportwettengesetzes NRW abgewendet werden könnte.

Nach alledem fällt auch die Interessenabwägung im Übrigen zugunsten des Antragstellers aus. Auch in diesem Zusammenhang rechtfertigt die Einräumung einer Übergangszeit für die Behebung des Verstoßes gegen Art. 12 Abs. 1 GG durch das Bundesverfassungsgericht keine andere Beurteilung. Andernfalls würde der Anwendungsvorrang des europäischen Gemeinschaftsrechts unterlaufen. Eine der Fallgestaltungen, in denen das europäische Recht für eine Übergangszeit möglicherweise hinter dem nationalen Recht zurückzustehen haben könnte, liegt nicht vor. Es kommt hinzu, dass die untersagte Tätigkeit jahrelang hingenommen wurde und dass in dieser Zeit auch die staatlich beherrschten Wettveranstalter – ungeachtet der Frage, ob die insoweit in Nordrhein-Westfalen tätige V überhaupt über eine staatliche Lizenz verfügt – intensiv geworben haben.

Vgl. auch VG Dresden, Beschluss vom 4. Mai 2007 – 14 K 2151/06 – (Beschlussabdruck S. 15).

Dies alles spricht dagegen, dass die Gefahren, zu deren Abwehr der Antragsgegner eingeschritten ist, jetzt auch nicht mehr vorübergehend hinzunehmen wären. Nach den in dieser Zeit gewonnenen Erfahrungen haben sich die Gefahren, die möglicherweise eine “inakzeptable Gesetzeslücke” begründen könnten, soweit ersichtlich nicht realisiert. “Zusätzliche” schädliche Auswirkungen durch private Wettveranstalter sind nicht zu befürchten.

Vgl. Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 2. Januar 2007 – 3 MB 38/06 –.

Ungeachtet dessen überwiegt gerade auch das öffentliche Interesse an der Bekämpfung der Spielsucht nicht die privaten Interessen an der vorläufigen Fortsetzung des Gewerbebetriebes. Denn es ist kein Grund erkennbar, der einen an Sportwetten Interessierten davon abhalten könnte, seinem Spielverlangen durch die Wahrnehmung eines Spielangebotes der staatlich beherrschten Gesellschaften nachzukommen, wenn die Vermittlungstätigkeit ins EU-Ausland unterbunden würde.

Vgl. Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, Beschlüsse vom 6. Dezember 2006 – 3 W 18/06 –, und vom 4. April 2007, a.a.O. (723).

Da der Antragsteller die Untersagungsverfügung nach alledem einstweilen nicht zu beachten braucht, ist auch die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen die Androhung eines Zwangsmittels für den Fall der nicht fristgerechten Befolgung der Grundverfügung anzuordnen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 3 Nr. 2 und 63 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes. Sie entspricht der aktuellen Rechtsprechung für Verfahren dieser Art.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 1. Oktober 2004 – 4 B 1637/04 –, GewArch 2005, 77.

(Unterschriften)