Leitsätzliches
Ein TV-Kabelnetzbetreiber, der auch als Internetprovider tätig ist, muss Auskunft über die Identität von Anschlussinhabern erteilen, wenn die Zeit der erstmaligen Vergabe einer IP-Adresse an den Anschlussinhaber ("start binding time") in seinen operativen Datensystemen – also nicht nur in einem Vorratsdatenspeicher gemäß dem vom BVerfG für nichtig erklärten § 113a TKG – gespeichert und ihm die Sicherung dieser Daten durch eine wenige Tage nach der geltend gemachten Rechtsverletzung ergangene vorläufige richterliche Anordnung aufgegeben wird.OBERLANDESGERICHT KÖLN
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
Entscheidungsdatum: 22. Juni 2011
Aktenzeichen: 28 O 819/10
In dem Rechtsstreit
...
gegen
...
hat der ... Sentat des Oberlandesgerichts Köln durch die Richter
...
beschlossen:
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss der 25. Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 10.05.2010 – 225 O 41/10 – abgeändert:
Die Verwendung von Verkehrsdaten (§ 3 Nr. 30 TKG) durch die Beteiligte zur Erteilung der Auskunft an die Antragstellerin über Namen und Anschriften derjenigen Nutzer, denen zu den in der dem Beschluss der Kammer vom 02.03.2010 beigefügten Anlage ASt 1 angegebenen Zeitpunkten die dort aufgeführten IP-Adressen zugeteilt waren, ist zulässig.
Ihre außergerichtlichen Kosten tragen die Beteiligten selbst.
Auslagen für das Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben.
Gründe
I. Die Antragstellerin ist Inhaberin ausschließlicher Nutzungsrechte an dem Film "Zeiten ändern dich", der – wie dem Senat aus anderen Verfahren bekannt ist – zu Anfang Februar 2010 in deutschen Kinos anlief. Sie hat durch ein Spezialunternehmen (ipoque GmbH), dessen Arbeitsweise sie im Einzelnen darstellt und glaubhaft macht, 97 IP-Adressen ermittelt, unter denen der Film am 28.02.2010 über Filesharing-Netzwerke (sogenannte Internet-Tauschbörsen) öffentlich zugänglich gemacht wurde (Anlage ASt 1). Die IP-Adressen waren der Beteiligten zugeordnet.
Am 02.03.2010 hat das Landgericht der Beteiligten die Sicherung der betreffenden Verkehrsdaten aufgegeben. Die Beteiligte hat um Zurückweisung des Gestattungsantrags gebeten mit der Behauptung, sie sei zur Auskunft schon aus tatsächlichen Gründen nicht in der Lage; ihr System speichere nur die Zeitpunkte der aktuellen und vorhergehenden (stündlich erfolgenden) "Lease-Vergabe" einer (dynamischen) IP-Adresse. Mit dem angefochtenen Beschluss hat die Kammer den Antrag abgelehnt. weil die Praxis der Beteiligten, die eingesetzten dynamischen IP-Adressen zeitnah nach dem Einwahlzeitpunkt zu "löschen", gerichtsbekannt sei.
Im Beschwerdeverfahren verfolgt die Antragstellerin ihren Antrag weiter. Die Beteiligte hat zunächst vorgetragen, für die Auskunft verwendbare Daten nur gemäß dem mit Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 02.03.2010 (BVerfGE 125, 260 = NJW 2010, 833 – Vorratsdatenspeicherung) für nichtig erklärten § 113a TKG als Vorratsdaten gespeichert und nach dem Urteil gelöscht zu haben. Später hat sie klargestellt, dass sie ohne Verarbeitung von Verkehrsdaten nicht sicher sagen könne, ob in Bezug auf die antragsgegenständlichen IP-Adressen und Zeitpunkte schon Daten gelöscht seien. Tatsächlich werde in ihren von einem Dienstleister verwalteten, die Adresszuteilung an ihre Kunden vornehmenden operativen Systemen (bezeichnet als DHCP-Systeme entsprechend dem Dateiformat Dynamic Host Configuration Protocol oder als BACC-System entsprechend der Nomenklatur des Dienstleisters) die Zeit der erstmaligen Vergabe einer dynamischen IP-Adresse ("start binding time") gespeichert und erst bei einer Neuvergabe derselben Adresse überschrieben und gelöscht, die in der Regel nur nach einem Abschalten des Modems des Kunden oder nach einer Störung des Systems stattfinde. Betriebs- und abrechnungstechnisch benötige sie die Daten nicht, ihre im Hinblick auf die Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung programmierte Erfassung lasse sich indes nicht ohne erheblichen Eingriff in das System rückgängig machen. Sie meint, an der geforderten Auskunft durch den auf die Vorratsdatenspeicherung nach § 113a TKG beschränkten Verwendungszweck der Datenerfassung gehindert zu sein. Das Landgericht hat sich dieser Auffassung mit Beschluss vom 04.10.2010 angeschlossen und der Beschwerde nicht abgeholfen.
Nach einem Hinweis des Senats haben die Antragstellerin und die Beteiligte ihr Vorbringen weiter ergänzt und in einem auf Anregung der Beteiligten anberaumten Termin am 08.06.2011 mündlich erläutert.
II. Die gemäß § 101 Abs. 9 Satz 6 und 7 UrhG zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg.
1. Die Voraussetzungen einer Anordnung nach § 101 Abs. 9 UrhG zu Gunsten der Antragstellerin liegen dem Grunde nach vor. Von offensichtlichen Rechtsverletzungen durch die noch unbekannten Nutzer der Internet-Tauschbörsen, in denen der ihrem exklusiven Nutzungsrecht unterliegende Film unter den in Rede stehenden IP-Adressen öffentlich zugänglich gemacht wurde, ist nach ihrer zu keinen relevanten Zweifeln Anlass gebenden Darlegung ebenso auszugehen wie von einem gewerblichen Ausmaß der innerhalb des ersten Monats nach dem Kinostart, damit in der aktuellen Verwertungsphase des Films erfolgten Verletzungshandlungen.
2. Die Beschwerde wäre mangels materieller Beschwer bereits unzulässig, jedenfalls aber wegen objektiven Zweckfortfalls unbegründet, wenn der Beteiligten die von der Antragstellerin erstrebte Auskunft aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen – wegen zwischenzeitlicher Löschung oder Unverwertbarkeit der zur Verwendung bei der Auskunft in Betracht kommenden Verkehrsdaten – vollständig unmöglich geworden wäre (vgl. Senatsbeschluss vom 20.10.2008 - 6 Wx 1/08). Ein solcher Ausnahmetatbestand kann auf der Grundlage des dem Senat vorgetragenen Sachverhalts aber nicht festgestellt werden, so dass die beantragte Gestattungsanordnung zu erlassen ist.
a) Ihre frühere Behauptung, nach Auflösung des gemäß § 113a TKG eingerichteten Datenbank auf Grund des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 02.03.2010 tatsächlich über keine für die Auskunft verwendbaren Daten mehr zu verfügen, hat die Beteiligte im Beschwerdeverfahren nicht aufrechterhalten. In ihren operativen Systemen wurde und wird vielmehr bis heute über die Zeitpunkte der aktuellen und vorherigen "Lease-Vergabe" hinaus auch die Zeit der erstmaligen Vergabe einer dynamischen IP-Adresse ("start binding time") solange gespeichert, bis eine Neuvergabe erfolgt, unter Umständen also – wie der Vertreter der Beteiligten im Erörterungstermin eingeräumt hat – über sehr lange Zeiträume hinweg.
Auf die Frage, ob in Bezug auf bestimmte antragsgegenständliche IP-Adressen und Zeitpunkte ein Datenverlust durch Neuvergabe der Adresse zwischen dem abgefragten Zeitpunkt und dem Beginn der Datensicherung auf Grund des Beschlusses vom 02.03.2010 eingetreten und dadurch die Identifizierung des Nutzers dieser Adresse zu dem fraglichen Zeitpunkt unmöglich geworden ist, kommt es für die Entscheidung des Senats gerade nicht an, weil das Anordnungsverfahren nach § 101 Abs. 9 UrhG die Erteilung einer entsprechenden positiven oder negativen Auskunft erst ermöglichen soll.
b) Entgegen der Auffassung der Beteiligten kann auch nicht angenommen werden, dass ihr die Verwendung des in ihren operativen Systemen gespeicherten erstmaligen Vergabezeitpunkts der abgefragten IP-Adresse rechtlich unmöglich ist, was vor allem bei ausschließlich zur Erfüllung der Speicherpflicht aus § 113a TKG erhobenen und gespeicherten Daten hätte in Betracht kommen können. In Rede steht hier jedoch nicht die Verwendung von Daten in dem besonderen, inzwischen aufgelösten "Vorratsdatenspeicher" der Beteiligten; es geht vielmehr um solche fortlaufend gespeicherte (DHCP-) Daten in den für den operativen Betrieb ihres Telekommunikationsnetzes bestimmten und benutzten Systemen, die auch noch nach mehr als zwei Stunden die "start binding time" der jeweiligen IP-Adressen erkennen lassen. Eine objektive Zweckbindung nach §§ 113a, 113 b TKG für Auskünfte gegenüber den Strafverfolgungsbehörden besteht bei diesen Daten nicht. Eventuelle subjektive Absichten der Beteiligten in diese Richtung wären unerheblich; ihre Einlassung im Erörterungstermin, erst durch eine Durchsuchungsaktion der Staatsanwaltschaft Bonn im März 2010 auf den Verbleib der betreffenden Daten in ihren operativen Systemen aufmerksam gemacht worden zu sein, spricht allerdings gegen eine bewusst auf den Bereich der Vorratsdatenspeicherung beschränkte Datenerfassung.
Ob die Beteiligte gegen die gesetzlichen Regeln insbesondere des TKG zum Schutz personenbezogener Daten verstößt, indem sie – auch noch weit über ein Jahr nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung und nach der erwähnten Durchsuchungsaktion der Staatsanwaltschaft Bonn – in ihren operativen Systemen die "start binding time" einzelner IP-Adressen jeweils bis zu ihrer Neuvergabe vorhält, statt diese Daten in kürzeren zeitlichen Abständen zu löschen, bedarf keiner Entscheidung. Selbst wenn es so wäre, stünde dies einer Verwendung der von der Sicherungsanordnung vom 02.03.2010 erfassten Daten nicht entgegen, die Vorgänge vom 28.02.2010 betreffen. Betriebs- und abrechnungstechnisch mag die Beteiligte diese Daten schon nach wenigen Stunden nicht mehr benötigen; eine rechtliche Verpflichtung zur "sofortigen" Datenlöschung und ein nach weniger als einer Woche eingreifendes Verwertungsverbot in Bezug auf solche in den operativen Datenverarbeitungssystemen verbliebenen Verkehrsdaten folgt daraus aber nicht. Von Telekommunikationsnetzbetreibern kann nur erwartet und verlangt werden, dass sie nicht mehr benötigte Daten ohne schuldhaftes Zögern löschen. Bei den Telefonnetzbetreibern wird unter den heutigen technischen Gegebenheiten die Löschung der zur Aufnahme einer Internetverbindung vergebenen "dynamischen" IP-Adressen sieben Tagen nach Beendigung der Verbindung jedenfalls noch als unverzüglich angesehen (OLG Frankfurt am Main, MMR 2010, 645). Der Senat kann offen lassen, ob Kabelnetzbetreiber wie die Beteiligte, die üblicherweise keine Zwangstrennung vornehmen, sondern IP-Adressen unter Umständen über lange Zeiträume hinweg vergeben, die "start binding time" bereits während des Bestehens der Verbindung in gewissen Abständen löschen (überschreiben) lassen müssen; denn jedenfalls für eine die Verwertung der hier in Rede stehenden Daten ausschließende rechtliche Verpflichtung, dies in kürzeren Abständen als einer Woche oder drei Tagen (wie nach Angaben der Antragstellerin vom Anbieter XY praktiziert) zu tun, ist eine gesetzliche Grundlage nicht ersichtlich.
c) Die verlangte Auskunft unter Verwendung solcher noch vorhandener Daten ist der Beteiligten unabhängig von dem damit verbundenen technischen und personellen Aufwand auch nicht unzumutbar, zumal die Antragstellerin der Beteiligten ihre erforderlichen Aufwendungen nach § 101 Abs. 2 S. 3 UrhG zu ersetzen hat.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 101 Abs. 9 S. 4 und 5 UrhG, § 81 Abs. 1 S. 2 FamFG, §§ 128a, 131a KostO.
(Unterschriften)